"Es war einmal eine Frau, die sich ein kleines Kind wünschte. Aber sie
wusste nicht, woher sie es bekommen sollte. Da ging sie zu einer alten
Hexe und sagte ihr: "Ich möchte gerne ein kleines Kind haben. Willst du
mir nicht sagen, woher ich das bekommen kann?" "Ja, damit wollen wir
schon fertig werden!", sagte die Hexe. "Hier hast du ein Gerstenkorn,
das nicht auf dem Felde des Bauern wächst oder von den Hühnern gefressen
wird. Lege das Gerstenkorn in einen Blumentopf, und du wirst etwas
zauberhaftes zu sehen bekommen!" "Ich danke dir!", sagte die Frau und
gab der Hexe fünf Groschen.
Dann ging sie nach Hause, pflanzte das Gerstenkorn, und sogleich
wuchs eine herrlich große Blume daraus hervor. Sie sah aus wie eine
Tulpe, und die Blätter schlossen sich fest zusammen, gerade als ob sie
noch in der Knospe wären.
"Das ist eine hübsche Blume!", sagte die Frau und küsste sie auf die
roten und gelben Blätter. Aber gerade in diesem Augenblick öffnete sich
die Blume mit einem Knall. Es war wirklich eine Tulpe, wie man nun sehen
konnte, doch mitten in der Blume saß ein ganz kleines Mädchen, fein und
niedlich. Es war nicht größer als ein Daumen, und darum wurde es
Däumelinchen genannt.
Däumelinchen bekam nun eine lackierte Walnussschale als Wiege.
Veilchenblätter waren ihre Matratze und ein Rosenblatt ihr Bettdecke. So
schlief sie bei Nacht, aber am Tage spielte sie auf dem Tisch. Die Frau
stellte ihr einen Teller mit Wasser hin und legte einen ganzen Kranz
Blumen darum, sodass die Stängel ins Wasser ragten. Nun konnte
Däumelinchen auf einem Tulpenblatt sitzen und von der einen Seite des
Tellers zur anderen fahren. Sie hatte zwei weiße Pferdehaare zum Rudern.
Dabei sang sie so fein und zart, wie man es nie gehört hatte. Das war
wirklich wundervoll.
Eines Nachts, als Däumelinchen in ihrem schönen Bettchen lag, kam
eine Kröte durch eine zerbrochene Fensterscheibe hereingehüpft. Die
Kröte war hässlich, groß und nass. Sie hüpfte geradewegs auf den Tisch,
wo Däumelinchen unter dem Rosenblatt schlief. "Das wäre eine schöne Frau
für meinen Sohn!", dachte die Kröte. Sie nahm die Walnussschale, in der
Däumelinchen schlief, und hüpfte durch die zerbrochene Scheibe in den
Garten zurück.
Am Ende von dem Garten war ein großer, breiter Fluss. Aber das Ufer
war feucht und morastig. Hier wohnte die Kröte mit ihrem Sohne. Hu, der
war genau so hässlich wie seine Mutter. "Koax, koax, brekerekex!" Das
war alles, was er sagen konnte, als er das niedliche kleine Mädchen in
der Walnussschale erblickte.
"Sprich nicht so laut, sonst wird sie wach", flüsterte die alte
Kröte. "Sie könnte uns noch entlaufen, denn sie ist so leicht wie ein
Schwanenflaum! Wir wollen sie in der Mitte des Flusses auf ein
Seerosenblatt setzen. Dann hat sie ihre eigene Insel und kann nicht
davonlaufen, während wir unsere morastige Stube instand setzen." Die
alte Kröte nahm die Nussschale und brachte sie hinaus auf das größte
Seerosenblatt im Flusse.
Däumelinchen erwachte am frühen Morgen und sah sich um. Da fing sie
bitterlich an zu weinen, denn überall war Wasser, und sie konnte gar
nicht an Land kommen. Die alte Kröte saß derweil am Ufer im Morast und
putzte ihre Stube mit Schilf und gelben Blumen aus. Es sollte ja recht
hübsch für die neue Schwiegertochter werden.
Dann schwamm die Kröte mit dem hässlichen Sohne zu dem Blatte, wo
Däumelinchen stand. Sie wollten ihr hübsches Bettchen holen, das schon
im Brautgemach stehen sollte, wenn Däumelinchen es selbst betrat. Die
alte Kröte verneigte sich vor ihr und sagte: "Hier siehst du meinen
Sohn. Er wird dein Mann sein, und ihr werdet prächtig dort unten im
Moraste wohnen!" "Koax, koax, brekerekex!" Das war alles, was der Sohn
sagen konnte.
Dann nahmen sie das niedliche, kleine Bett und schwammen zum Ufer
zurück. Däumelinchen aber saß ganz alleine und weinte, denn sie mochte
nicht bei der hässlichen Kröte wohnen und ihren Sohn zum Manne haben.
Die kleinen Fische, die unten im Wasser schwammen, hatten die Kröte wohl
gesehen und auch gehört, was sie sagte. Deshalb streckten sie die Köpfe
empor, um das kleine Mädchen zu sehen. Sie fanden es sehr niedlich und
bedauerten, dass es zur hässlichen Kröte ziehen sollte. Nein, das durfte
nie geschehen! Sie versammelten sich unten im Wasser rings um den
Stängel, der das Seerosenblatt von Däumelinchen hielt. Dann nagten sie
gemeinsam den Stiel ab, und das Blatt schwamm den Fluss hinab, weit weg,
wo die Kröte nicht mehr hingelangen konnte.
Däumelinchen segelte nun an vielen Städten vorbei, und die kleinen
Vögel saßen in den Büschen und sangen: "Welch liebliches, kleines
Mädchen!" Das Blatt schwamm immer weiter und weiter fort, und
Däumelinchen reiste bis über die Grenzen des Landes.
Ein hübscher, weißer Schmetterling umflatterte sie stets und ließ
sich zuletzt auf das Blatt nieder. Jetzt konnte die Kröte Däumelinchen
nicht mehr erreichen, und die Sonne schien so schön auf das Wasser, das
es wie pures Gold glänzte. Da nahm Däumelinchen ihren Gürtel, band das
eine Ende an den Schmetterling und das andere an das Blatt. So ging die
Fahrt nun viel schneller voran.
Bald darauf kam ein großer Maikäfer geflogen. Der erblickte
Däumelinchen, schlug seine Klauen um ihren schlanken Leib und flog mit
ihr auf einen Baum. Das grüne Blatt schwamm weiter den Fluss hinab und
der Schmetterling hing immer noch daran, denn er war ja an das Blatt
gebunden und konnte sich nicht selber befreien. Betrübt schaute
Däumelinchen dem schönen, weißen Schmetterling nach, denn sie hätte ihn
gerne befreit.
Darum kümmerte sich der Maikäfer aber nicht. Er setzte sich mit ihr
auf das größte Blatt des Baumes und sagte, dass sie wahrhaft niedlich
sei, obwohl sie einem Maikäfer nicht sehr ähnlich sei. Später kamen auch
die anderen Maikäfer herbei, die im Baume wohnten. Sie betrachteten
Däumelinchen, und eine Maikäferfrau sagte: "Sie hat nur zwei Beine. Das
sieht erbärmlich aus." "Und sie hat auch keine Fühler!", sagte eine
andere. "Sie ist in der Mitte so schlank. Pfui, sie sieht ja wie ein
Mensch aus!"
Und doch war Däumelinchen so niedlich anzusehen. Das sagte jedenfalls
der Maikäfer, der sie geraubt hatte. Als die anderen aber immer wieder
sagten, das kleine Geschöpf sei hässlich, glaubte auch er es zuletzt und
wollte sie nicht mehr haben. Däumelinchen durfte gehen, wohin sie
wollte.
Den ganzen Sommer über lebte Däumelinchen nun alleine in dem großen
Wald. Sie flocht sich ein Bettchen aus Grashalmen und hing es unter
einem Klettenblatt auf. So war sie wenigstens vor dem Regen geschützt.
Däumelinchen aß das Süße von den Blumen und trank vom Tau, der jeden
Morgen auf den Blättern lag. So vergingen Sommer und Herbst.
Doch dann kam der kalte, lange Winter. Alle Vögel, die so schön
gesungen hatten, flogen davon. Bäume und Blumen verdorrten, und das
große Klettenblatt, unter dem sie gewohnt hatte, schrumpfte zusammen. Es
blieb nichts als ein gelber, verwelkter Stängel zurück. Däumelinchen
fror schrecklich, denn ihre Kleider waren entzwei. Es fing an zu
schneien, und jede Schneeflocke, die auf sie fiel, drückte sie zu Boden.
Dicht vor dem Walde, wohin sie nun gekommen war, lag ein großes
Kornfeld. Das Korn war schon lange abgeschnitten. Nur die nackten
Stoppeln ragten noch aus der gefrorenen Erde hervor. Für Däumelinchen
waren sie wie ein großer Wald, den sie durchwandern musste, und sie
zitterte doch so vor Kälte!
Da gelangte sie vor die Tür der Feldmaus, die ein kleines Loch unter
den Kornstoppeln hatte. Die Feldmaus wohnte warm und gut, hatte eine
herrliche Küche und eine Speisekammer voll Korn. Däumelinchen stellte
sich in die Tür, gerade wie jedes andere Bettelmädchen, und bat um ein
kleines Stück Gerstenkorn, denn sie hatte seit Tagen nichts gegessen.
"Du kleines Wesen!", rief die Feldmaus. "Komm herein in meine warme
Stube und iss mit mir! Du kannst auch den Winter über bei mir bleiben,
aber du musst meine Stube sauber und rein halten und mir Geschichten
erzählen, denn das liebe ich sehr."
Däumelinchen tat, was die alte Feldmaus verlangte, und hatte es nun
wirklich gut. Einige Tage später sagte die Feldmaus: "Wir werden bald
Besuch erhalten. Mein Nachbar pflegt mich jede Woche zu besuchen. Er
steht sich noch besser als ich, hat große Säle und trägt einen schönen,
schwarzen Samtpelz! Wenn du den zum Manne nimmst, bist du gut versorgt.
Da macht es dann auch nichts, dass er so gut wie blind ist. Du musst ihm
aber hübsche Geschichten erzählen, wenn er kommt!"
Däumelinchen wollte davon nichts wissen. Sie mochte den Nachbarn gar
nicht haben, denn er war ein Maulwurf. Der kam dann auch in seinem
schwarzen Samtpelz zu Besuch. Er war sehr gelehrt, aber die Sonne und
die schönen Blumen mochte er nicht leiden. Dafür hatte er nur schlechte
Worte übrig, denn er hatte sie noch nie gesehen. Von Däumelinchen
wünschte er sich nun ein paar Lieder. Da sang sie "Maikäfer flieg" und
"Wer will unter die Soldaten". Der Maulwurf hörte ihre schöne Stimme und
war sogleich verliebt. Er sagte es aber nicht, denn er war ein
besonnener Herr.
Es war noch nicht lange her, da hatte der Maulwurf einen langen Gang
durch die Erde gegraben, der von seinem Hause aus bis zur Unterkunft der
Feldmaus führte. Die Feldmaus und Däumelinchen bekamen nun die
Erlaubnis, darin spazieren zu gehen, soviel sie wollten. Aber sie
sollten sich nicht vor dem toten Vogel fürchten, der in dem Gange lag.
Es war ein ganzer Vogel mit Federn und Schnabel, der erst kürzlich
gestorben und begraben worden war, gerade da, wo der Maulwurf seinen
Gang gemacht hatte.
Der Maulwurf nahm nun ein Stück faules Holz ins Maul, denn das
schimmert ja wie Feuer im Dunkeln. Er ging voran und leuchtete auf dem
Wege. Als sie zu dem toten Vogel kamen, stemmte der Maulwurf seine
breite Nase gegen die Decke und stieß die Erde auf, sodass es ein großes
Loch gab und das Licht hindurchscheinen konnte. Mitten auf dem Fußboden
lag eine tote Schwalbe. Die schönen Flügel waren fest an die Seite
gedrückt, und die Füße und der Kopf unter die Federn gezogen. Der arme
Vogel war sicher vor Kälte gestorben.
Das tat Däumelinchen nun sehr Leid. Sie mochte all die kleinen Vögel,
denn sie hatten ja den ganzen Sommer über so schön gesungen und
gezwitschert. Aber der Maulwurf stieß den toten Vogel mit seinen kurzen
Beinen und sagte: "Nun pfeift er nicht mehr. Es muss doch erbärmlich
sein, als Vogel geboren zu werden! Außer seinem "Quivit" hat dieser
Vogel ja nichts und muss im Winter sogar verhungern!" "Ja", erwiderte
die Feldmaus, "das ist erbärmlich."
Däumelinchen sagte gar nichts, aber als die beiden anderen sich
umdrehten, ging sie zu dem Vogel, schob die Federn beiseite und küsste
ihn auf die geschlossenen Augen. "Vielleicht war er es ja", dachte sie,
"der so hübsch für mich im Sommer gesungen hat." "Wie viel Freude hat er
mir gegeben!"
Der Maulwurf stopfte nun das große Erdloch zu und begleitete die
anderen nach Hause. Aber in der Nacht konnte Däumelinchen gar nicht
schlafen. Da stand sie auf und flocht aus Heu einen großen, schönen
Teppich. Den trug sie zu dem Vogel, breitete ihn aus und legte auch noch
weiche Baumwolle darauf, die aus der Stube der Feldmaus stammte. Dann
rollte sie den toten Vogel auf den Teppich, damit er in der kalten Erde
warm liegen möge.
"Lebe wohl, du schöner, kleiner Vogel", sagte Däumelinchen. "Lebe
wohl und habe Dank für deinen herrlichen Gesang!" Sie legte ein letztes
Mal ihr Haupt an die Brust des Vogels. Doch horche! - Es war gerade so,
als ob das Herz des Vogels wieder klopfte. Der Vogel war gar nicht tot,
er lag nur betäubt da. Jetzt, wo er auf dem warmen Teppich war, rührte
sich wieder Leben in ihm.
Was war nur geschehen? - Nun, im Herbst fliegen alle Schwalben in die
warmen Länder nach Süden. Verspätet sich aber eine, muss sie frieren,
bis sie totengleich niederfällt und liegen bleibt. Dann kann der kalte
Schnee sie bedecken.
Däumelinchen erschreckte sich sehr, denn der Vogel war ja viel größer
als sie selbst. Trotzdem legte sie die Baumwolle dichter um die
Schwalbe, damit der Vogel es noch angenehmer hatte. In der nächsten
Nacht schlich sie sich wieder zu ihm hin, da öffnete die Schwalbe kurz
die Augen. "Ich danke dir, du kleines Kind", sagte sie. "Die Wärme hat
mir gut getan. Bald komme ich zu Kräften und kann dann wieder draußen in
der warmen Sonne umherfliegen!"
"Oh", sagte Däumelinchen, "es schneit und friert noch da draußen.
Bleib in deinem warmen Bettchen, ich werde dich auch pflegen!" Sie
brachte der Schwalbe Wasser in einem Blumenblatt und fragte, was
geschehen sei. Da erzählte die Schwalbe, wie sie kurz vor dem Vogelzug
eine Dornbusch mit dem Flügel gestreift hatte. Sie sei zur Erde gestürzt
und wüsste von da ab auch nicht, wie sie unter die Erde gekommen war.
Den ganzen Winter über blieb sie nun da unten. Däumelinchen pflegte
sie und hatte sie lieb. Weder der Maulwurf noch die Feldmaus erfuhren
etwas davon, denn sie mochten die arme Schwalbe ohnehin nicht leiden.
Sobald das Frühjahr kam und die Sonne die Erde erwärmte, stieß die
Schwalbe mit dem Schnabel die Erde auf. Die Sonne schien herrlich zu
ihnen herein, und die Schwalbe fragte Däumelinchen, ob sie mitkommen
wolle. "Nein, ich kann nicht", sagte Däumelinchen, denn sie wollte die
alte Feldmaus nicht verlassen. "Dann lebe wohl, du gutes, niedliches
Mädchen", sagte die Schwalbe und flog hinaus in den Sonnenschein.
Däumelinchen sah ihr nach, und das Wasser trat ihr in die Augen, denn
sie hatte die Schwalbe von Herzen gerne. "Quivit, quivit!", sang der
Vogel und flog zum grünen Wald davon.
Däumelinchen war nun recht betrübt. Es war ihr untersagt, in den
warmen Sonnenschein hinauszugehen. Das Korn, das über dem Hause der
Feldmaus gesät war, wuchs auch schon hoch in die Luft empor. Es stand in
dichten Reihen und war wie ein dichter Wald für das arme, kleine
Mädchen.
"Nun solltest du aber deine Aussteuer für die Hochzeit nähen", sagte
die Feldmaus zu Däumelinchen. Der Maulwurf hatte nämlich um ihre Hand
angehalten. Däumelinchen musste auf der Spindel spinnen, und die
Feldmaus mietete vier Raupen, die Tag und Nacht für sie webten. Jeden
Abend besuchten sie den Maulwurf, und er sprach immerzu: "Wenn der
Sommer vorbei sei, dann wollen Hochzeit halten."
Däumelinchen war darüber gar nicht erfreut, denn sie mochte den
langweiligen Maulwurf nicht leiden. Jeden Morgen, wenn die Sonne
aufging, und jeden Abend, wenn sie unterging, schlich sie zur Tür
hinaus. Wenn dann der Wind durch die Kornähren rauschte, konnte sie den
blauen Himmel erblicken und dachte daran, wie hell und schön es hier
doch war. Und sie wünschte sich sehnlichst, die liebe Schwalbe
wiederzusehen.
Als es nun Herbst wurde, hatte Däumelinchen ihre ganze Aussteuer
beisammen. "In vier Wochen ist die Hochzeit", sagte die Feldmaus. Aber
Däumelinchen weinte nur und sagte, sie wolle den langweiligen Maulwurf
nicht haben. "Schnickschnack!", rief die Feldmaus. "Sei nicht undankbar!
Außerdem hat der Maulwurf eine große Küche und einen vollen Keller. Was
kann man mehr erwarten?"
Nun sollte also die Hochzeit sein. Der Maulwurf war schon gekommen,
um Däumelinchen zu holen. Sie sollte tief unter der Erde bei ihm wohnen.
Das arme Kind war sehr betrübt. "Lebe wohl, du helle Sonne!", rief
Däumelinchen und lief noch ein letztes Mal auf das Feld vor dem Hause
der Feldmaus. Das Korn war schon geerntet, und es standen nur noch
Stoppeln da. "Lebe wohl!", rief Däumelinchen und schlang ihre Arme um
eine kleine rote Blume. "Grüße die kleine Schwalbe von mir, wenn du sie
zu sehen bekommst!"
"Quivit, quivit!", ertönte es plötzlich über ihrem Kopfe. Sie sah
empor, und es war die kleine Schwalbe, die gerade vorbeikam.
Däumelinchen erzählte ihr, wie ungern sie den Maulwurf zum Manne nehmen
wolle, und dass sie tief unter der Erde wohnen solle, wo es keine Sonne
gebe.
Da sagte die kleine Schwalbe: "Nun, ich fliege bald fort in die
warmen Länder. Willst du mit mir kommen? Du kannst auf meinem Rücken
sitzen! Binde dich mit deinem Gürtel fest, dann fliegen wir in ein Land,
wo Sommer ist und herrliche Blumen blühen. Fliege nur mit, mein kleines
Däumelinchen!" "Ja, dieses Mal werde ich mit dir kommen!", sagte
Däumelinchen fest entschlossen, setzte sich auf den Rücken der Schwalbe
und band sich fest.
Hui, wie der Wind sauste die Schwalbe hoch in die Lüfte. Sie flog
über Wälder und Seen, und über die großen Berge, wo das ganze Jahr über
Schnee liegt. Däumelinchen fror in der kalten Luft, aber sie verkroch
sich geschwind unter den warmen Federn der Schwalbe und streckte nur den
kleinen Kopf hervor, um all die Schönheiten unter sich zu betrachten.
So kamen sie dann auch glücklich in die warmen Länder. Dort schien
die Sonne viel klarer als hier. Der Himmel war zweimal so hoch, und an
den Gräben und Hecken wuchsen die schönsten Weintrauben. In den Wäldern
hingen Zitronen und Apfelsinen, und es duftete nach Myrte und Minze. Auf
den Landstraßen liefen die niedlichsten Kinder und spielten mit großen,
bunten Schmetterlingen. Aber die Schwalbe flog noch weiter, und es
wurde schöner und schöner. An einem blauen See stand ein weißes
Marmorschloss aus alten Zeiten, das mit herrlich grünen Bäumen umstanden
war. Weinreben rankten sich an den hohen Marmorsäulen empor, und ganz
oben waren viele Schwalbennester. Dort wohnte auch die Schwalbe, die
Däumelinchen trug.
"Hier ist meine zweite Heimat", sagte die Schwalbe zu Däumelinchen.
"Aber willst du dir nicht selbst eine prächtige Blume da unten suchen?
Komm, ich werde dich hinbringen, und du sollst es so gut und schön
haben, wie du es dir wünschst!" "Das ist herrlich!", sagte Däumelinchen
und klatschte vor Freude in die Hände.
Ganz in der Nähe war auch eine große, weiße Marmorsäule, die zu Boden
gefallen und in drei Stücke gesprungen war. Dazwischen wuchsen
wundevolle weiße Blumen. Die Schwalbe flog mit Däumelinchen hinunter und
setzte sie auf ein Blatt. Däumelinchen glaubte zu träumen. - Da saß ein
kleiner Mann mitten auf der Blume, so weiß und durchsichtig, als wäre
er aus Glas. Er trug eine kleine Goldkrone auf dem Kopfe und hatte
herrlich klare Flügel an den Schultern. Er war nicht größer als
Däumelinchen, und er war der König der Blumenelfe, die überall in den
Blumen wohnten.
"Gott, wie ist er schön", flüsterte Däumelinchen. Der kleine Prinz
erschrak sehr über die Schwalbe, denn sie erschien ihm wie ein
Riesenvogel. Als er aber Däumelinchen erblickte, war er sehr entzückt.
Sie war das schönste Mädchen, das er je gesehen hatte, darum nahm er
seine Goldkrone vom Haupte und setzte sie ihr auf. Dann fragte er, wie
sie heiße und ob sie seine Frau werden wolle. Ja, das war ein anderer
Mann als der Sohn der Kröte oder der Maulwurf. Däumelinchen überlegte
nicht lange und gab dem herrlichen Prinzen ihre Hand.
Nun kamen alle Elfen aus den Blumen, egal ob Mann oder Frau, und sie
brachten Däumelinchen schöne Geschenke. Das Beste waren aber die Flügel
von einer großen, weißen Fliege. Sie wurden Däumelinchen am Rücken
befestigt, worauf sie von Blume zu Blume fliegen konnte.
"Von nun an sollst du nicht mehr Däumelinchen heißen!", sagte der
Blumenelf zu ihr. "Wir wollen dich Maja nennen." Da gab es viel Freude,
und die Schwalbe saß oben in ihrem Neste und sang, so gut sie es eben
konnte. Aber im Herzen war sie doch betrübt, denn sie wäre gerne mit
Däumelinchen zusammen geblieben.
"Lebe wohl, lebe wohl!", rief die kleine Schwalbe bald und machte
sich wieder auf die lange Reise. Denn es war Zeit für die andere Heimat,
weiter oben im Norden. Dort hatte die Schwalbe auch ein kleines Nest,
und zwar mitten über dem Fenster, wo der Mann wohnt, der die schönsten
Märchen erzählt."
Aber warum eigentlich? Vielleicht, weil diese Geschichte in einer heilen, idyllischen Welt beginnt, im weiteren Verlauf aber viele Facetten des Lebens zeigt: Traurigkeit, Grausamkeit,
Verlust, Einsamkeit und Angst. Tapfer fügt sich Däumelinchen ihrem
Schicksal und trotz der vielen Schicksalsschläge bleibt ihr die Kraft,
den noch Schwächeren zu helfen. Am Ende wird Däumelinchen belohnt, es
kann der düsteren Welt entkommen, findet eine neue Heimat und einen
wundervollen Mann. Rückblickend gesagt, könnte das die Beschreibung meines Lebens und meine Erfahrungen sein.
Dieses Märchen hat mich schon als Kind zutiefst berührt. Schonungslos wird hier offenbart, wie hart das Schicksal zuschlagen
kann. Durch seine phantasievolle und mitreißende Erzählweise vermag es
H. C. Andersen den Leser in seine Geschichten hineinzuziehen. Eigentlich
möchte man nicht weiterlesen, doch das Gelesene fesselt. Kunstvoll
gestaltete Aquarelle in verwaschenen Farben deren Mittelpunkt ein
wirklich wundervolles Däumelinchen bildet, verstärken noch das Erzählte.
Für ein Kind, das alt genug ist, einen solchen Stoff zu verarbeiten
bietet dieses Märchen - wie wiele andere Märchen Andersens auch - eine
wunderbare Möglichkeit vom schier unerschöpflichen Ideenreichtum und den
aussergewöhnlich mitreißenden sprachlichen Formulierungen des Dichters
zu profitieren und die eigene Phantasie zu beflügeln, denn dies
beherrscht Hans Christian Andersen wie kaum ein anderer.
Ich war damals knapp 6 Jahre alt und liebe dieses Märchen noch heute.